Dieses Projekt entstand nicht am Schreibtisch, sondern aus der Praxis: Ein Hakenkreuz führte zur Auseinandersetzung mit Jugendlichen, die Diskussion mündete in weiterreichendes Interesse, nach ersten Erkundungen, Projektideen und der Formulierungen von Zielen entstand schliesslich ein Projektbeschrieb für diese Studienreise.
Ausgangspunkt
Nach einem Lager mit meiner Konfirmationsklasse im Jahr 2011 wurden an den Wänden des Lagerhauses «Wandmalereien» entdeckt: Unter anderem war an einem Balken mit dickem Filzstift ein Hakenkreuz angebracht.
Auch wenn dieses Hakenkreuz wohl von einer anderen Gruppe stammte, wurde in den Gesprächen darüber deutlich, dass die meisten Schülerinnen und Schüler nur sehr rudimentäres Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust hatten. Andererseits stiess das Thema bei ihnen auf grosses Interesse.
Bei der Planung des Jahresprogramms 2012 entstand die Idee, gemeinsam mit etwa zehn Jugendlichen der Klassen 7 bis 9 im Rahmen einer Studienreise ein ehemaliges Konzentrationslager zu besuchen und sich im Kontext dazu mit Nationalsozialismus und Holocaust zu beschäftigen.
Erkundungen
Da mir eine Reise nach Auschwitz aus geografischen und finanziellen Gründen kaum möglich erschien, konzentrierten sich meine Überlegungen auf Bergen-Belsen mit seinem erst im Jahr 2008 neu gebauten Ausstellungs und Dokumentationszentrum.
Bergen-Belsen als der Ort, an dem Anne Frank starb, führte zu der Idee, die Biografie der Anne Frank als zeitliches und geografisches Raster für das Gesamtprojekt zu wählen: Das Tagebuch der Anne Frank ist vielen Jugendlichen bereits bekannt, und eine Reise auf den Spuren dieser «gleichaltrigen» Persönlichkeit verspricht für Jugendliche starke biografische Anknüpfungspunkte.
Das Anne-Frank-Haus des CVJM in Oldau, einem Dorf in der unmittelbaren Umgebung der Gedenkstätte, bietet für Jugendgruppen vorzügliche Unterkunft, Kurse und Führungen. Bei meiner Recherche stiess ich auch rasch auf die Jugendbegegnungsstätte Anne Frank in Frankfurt, die neben einer eindrucksvollen Ausstellung auch Führungen und Workshops anbietet. Mit Frankfurt am Main als Geburtsort von Anne Frank war auf diese Weise ein geeigneter Ausgangspunkt unserer Studienreise gefunden.
Insgesamt ergab sich also ein Bogen von Frankfurt nach Bergen-Belsen, auf den Spuren der Anne Frank, der sich auch im Projektnamen niederschlug: «Anne Frank: Frankfurt – [. . .] – Bergen-Belsen».
Ziele
Die Ziele der Studienreise wurden folgendermassen formuliert:
- Erarbeitung von erlebnis- und erfahrungsbezogenem Wissen über Nationalsozialismus, Holocaust und Antisemitismus anhand der Lebensgeschichte der Anne Frank;
- Kenntnis über ein Konzentrationslager/eine Gedenkstätte aus eigener Anschauung;
- Wahrnehmung von aktuellem Antisemitismus und Rassismus, auch von Ansätzen oder Spuren rassistischen Denkens oder Argumentierens bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst;
- Prävention von Antisemitismus und Rassismus;
- Herstellung eines persönlichen Kurs-Journals (Tagebuch) mit Notizen und Fotos; Präsentation ausgewählter Inhalte auf einem Poster am Nachbereitungstreffen.
Projektbeschrieb
Bei der Zielsetzung des Projekts ging es mir zunächst um die Vermittlung von historischen Kenntnissen, die im Rahmen der Studienreise durch eigene Anschauung und Erfahrungen, und nicht zuletzt durch den Austausch im Kontext einer Gruppe Gleichaltriger vertieft werden konnten. Andererseits sollte das Projekt nicht nur eine Reise in die Vergangenheit eines fremden und längst vergangenen Landes sein, sondern eine Ausrichtung auf die Lebenswelt der heutigen Jugendlichen bekommen.
Insofern richtete sich bei der Erkundung der historischen Ereignisse im Deutschland ab 1933 der Blick auf die alltäglichen Lebensbedingungen: Wie konnte innerhalb dieses Alltags der Referenzrahmen so verrutschen, dass schliesslich der Holocaust gewissermassen zur Normalität wurde und die Forderung nach Unbeschneidbarkeit der Menschenwürde oder nur nach Rechtsstaatlichkeit zur Ausnahme?
Jan Philipp Reemtsma hat das bewahrenswerte «Etwas», das aus einem so analysierenden Umgang mit dem Holocaust hervorgeht, nicht «Erinnerung» nennen wollen, sondern besser «Bewusstsein von der Fragilität unserer Zivilisation» (Reemtsma 2010, S. 9.). Dieses Bewusstsein aber hat eine ganz wesentliche aktuelle Bedeutung: Wenn unsere Zukunft menschenwürdiges Leben für alle bereithalten soll, müssen wir uns heute darum kümmern, dass unsere fragile Zivilisation nicht zerbricht (vgl. Giesecke/Welzer 2012, z.B. S. 26). Mit einer solchen Erinnerung des Holocausts kann schliesslich auch die aktuelle Lebenswelt der Jugendlichen untersucht werden nach Bruchstellen, in denen Rassismus oder Antisemitismus die Zivilisation gefährden.
Im Projektbeschrieb hielt ich die Eckpunkte des geplanten Projekts fest: Ziele, Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ein grober Zeitplan und ein bereits recht detailliertes Reiseprogramm, ein Projektbudget und die Leitungsverantwortung.
Literatur und Links
Literatur
- Peter Gautschi, Meik Zülsdorf-Kersting, Béatrice Ziegler (Hg.): Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert, Zürich 2013.
- Dana Giesecke, Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.
- Jan Philipp Reemtsma: Wozu Gedenkstätten? in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25–26/2010, 3–9.