Studienreise

Das Projekt gliederte sich in drei Teile: Vorbereitung (September bis Dezember 2011), Studienreise nach Frankfurt und Bergen-Belsen (Januar 2012) und Nachbereitung (Mitte Januar bis März 2012).

Vorbereitung

Der Projektbeschrieb diente als Grundlage für die Aus­schreibung, die im Frühsommer 2011 im Rahmen von Kurzbesuchen in den Ober­stufenklassen an alle Schülerinnen und Schüler verteilt wurde.

Am Projekt nahmen dann wie geplant zehn Jugendliche teil: fünf Mädchen und fünf Jungen aus den Klassen 7 bis 9 im Alter von 12 bis 15 Jahren. Die Leitung teilte ich als reformierter Pfarrer mir mit einer KUW­-Mitarbeiterin, die ich glück­licherweise für das Projekt gewinnen konnte.

Das Projekt begann mit einem Vorberei­tungstreffen im September 2011. Der Abend diente dem Austausch über Vorwis­sen, Fragen und Erwartungen, der Kom­munikation der Kursziele und -methoden sowie ersten Absprachen organisatorischer Art.

Die inhaltliche Vorbereitung der Reise lag anschliessend in der Verantwortung der Jugendlichen: Von ihnen allen erwarteten wir die Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank. Ausserdem ermunterten wir sie zum eigenständigen Vertiefen ihres Wissens über Anne Frank und Bergen­-Belsen an­hand einer Vielzahl von weiterführenden Materialen, die wir am Vorbereitungstref­fen präsentierten. Zusätzlich gaben wir eine Materialliste ab, in der wir empfeh­lenswerte Bücher, Filme und Weblinks zusammengestellt hatten.

Damit die Jugendlichen während der Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank und der weiteren Materialien ihre persönlichen Notizen, Fragen und Erkenntnisse festhalten konnten, gaben wir ihnen bereits am Vorbereitungstreffen das Kurs-Journal (Tagebuch) ab.

Zudem wiesen wir auch auf das konkret sichtbare Ziel des Projekts hin: Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer würden aufgrund ihrer persönlichen Notizen im Kurs-Journal schliesslich ein Poster erarbeiten, das im Anschluss an die Reise ausgestellt werden sollte.

Frankfurt

Anfang Januar 2012, am ersten Tag der Stu­dienreise, fuhren wir nach Frankfurt am Main, wo Anne Frank 1929 geboren wurde. In der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank nahmen wir an einem begleiteten Besuch der vorzüglichen Ausstellung teil, die sich um Anne Frank, Nationalsozialismus, Anti­semitismus, um den Widerstand und das Versteck der Familie Frank im Amsterdamer Hinterhaus drehte. Diese Ausstellung war ein sehr eindrucksvoller Einstieg, die Ju­gendlichen konnten einzeln, zu zweit oder in kleinen Gruppen ihren je eigenen Fragen und Interessen nachgehen. Die multimediale Aufbereitung der Ausstellung ist für Jugendliche sehr attraktiv und ansprechend, andererseits bietet die Ausstellung auch genug Material für die Vertiefung von Einzelaspekten.

Am zweiten Tag der Reise nahmen wir an einem Projekttag zum Thema «Widerstand und Unterstützung von verfolgten Juden» in der Jugendbegegnungsstätte Anne Frank teil. Dabei hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, wahrzunehmen, welche verschiedenen Arten von Verweigerung, Obstruktion und Widerstand gegen den Nationalsozialismus bzw. Unterstützung, Hilfe und Kampf für die Opfer des Nationalsozialismus es auf den verschiedensten Ebenen gab. Vor allem richtete sich das Augenmerk des Projekttags auch auf die Umstände und Motivationslagen, auf deren Basis sich die Helferinnen und Helfer entschieden, entgegen der Mehrheitsmeinung zu helfen oder Widerstand zu leisten.

Am Nachmittag machten wir einen Rundgang um den Frankfurter Börneplatz, wo sich früher Judengasse, Judenmarkt und Synagoge befunden hatten. Besonders beeindruckend fanden die Jugendlichen den alten jüdischen Friedhof und seine Ummauerung mit 11’134 Gedenksteinen für die im Holocaust umgebrachten jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner Frankfurts. Die enorme Zahl der ermordeten Menschen wurde hier erstmals fassbar – oder besser: in seiner Unfassbarkeit anschaulich.

Am dritten Tag unserer Studienreise gab es bei einem morgendlichen Gang durch das moderne Frankfurt mit Einkaufsmeile, Bankenviertel und dem «occupy Frankfurt» vor der Europäischen Zentralbank interessante Einzelgespräche mit aktuellen Assoziationen zum Thema «Zivilcourage» und «Widerstand» angesichts der aktuellen Finanzkrise.

Bergen-Belsen

Am dritten Tag der Reise machten wir uns auf den Weg nach Bergen-Belsen, dem Ort des Konzentrationslagers, in dem Anne Frank kurz vor dessen Befreiung im Jahr 1945 starb. In nahegelegenen Dorf Oldau steht das Anne­ Frank-Haus, in dem der CVJM erstklassige Bildungsarbeit zu den Themen Holocaust und Nationalsozialismus anbietet.

Am Abend begrüsste uns eine Mitarbeiterin des Anne-Frank-Hauses mit einem Einstieg zu Bergen-Belsen. Die Jugendlichen waren so gebannt wie entsetzt von den in unserer Mitte ausliegenden Fundstücken vom Lagergelände, die der CVJM im Rahmen früherer Ausgrabungen sichergestellt hatte. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit diesen Fundgegenständen ermöglichte den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine Annäherung und Vorbereitung auf die Begehung der Gedenkstätte am folgenden Tag. Der Überblick über die Geschichte des Lagers in Bergen-Belsen, der durch Querverweise mit der Lebensgeschichte von Anne Frank in Beziehung gesetzt wurde, half den Jugendlichen dabei, historische Abläufe zeitlich und geografisch zu verorten und miteinander zu vernetzen.

Am vierten Tag besuchten wir unter der kundigen Führung der Mitarbeiterin des Anne-Frank-Hauses die Rampe, das Lagergelände und die Ausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

Unser Rundgang begann an der Rampe, wo auch Anne Frank mit einem Transport in einem Viehwagen ankam. Der dort ausgestellte Eisenbahnwaggon vermittelte einen bedrückenden Einblick in die Bedingungen während der tagelangen Reise von Auschwitz nach Bergen-Belsen.

Anschliessend fuhren wir zum Lagergelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen, dessen ehemalige Anlage und Gebäude heute durch gezielte Rodung der Bäume und Sträucher sichtbar gemacht wird. Da die britischen Truppen nach der Befreiung des Lagers 1945 alle Gebäude wegen Typhusgefahr abbrannten, sind heute lediglich die Fundamente erhalten. Der Rundgang über das Lagergelände war methodisch vortrefflich als «Selbstführung» konzipiert: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erkundeten in Zweier- oder Dreiergruppen zunächst anhand unterstützender Materialien selbständig einzelne Bereiche des ehemaligen Lagergeländes und stellten ihre Beobachtungen und Erkundungsergebnisse bei einem gemeinsamen Rundgang der Gesamtgruppe vor.

Nach dem Besuch der Gedenkstätte mit dem grossen mahnenden Obelisk, nach einer Weile des gemeinsamen Schweigens im Haus der Stille und dem Besuch des Grabsteins von Margot und Anne Frank besuchten wir die eindrucksvolle Ausstellung der Gedenkstätte Bergen-Belsen. Das Interesse der Jugendlichen war noch immer so gross, das die bereits vereinbarte Rückfahrt per Bus um über eine Stunde verschoben wurde, damit noch ausreichend Zeit für die Ausstellung blieb. Die Ausstellung ist äusserst ansprechend und beeindruckend und hält auch für einen zweiten und dritten Besuch eine unendliche Fülle von Materialien zur vertiefenden Beschäftigung mit Einzelpersonen, Personengruppen oder verschiedenen Themen der Lagergeschichte bereit.

Nachbereitung

Das Nachbereitungstreffen Mitte Januar 2012 umfasste zunächst einen ersten Teil im Kreis unserer Reisegruppe. Nach einem einleitenden Austausch («Wie geht es mir drei Tage nach der Rückkehr?») versuchten wir, das Thema Antisemitismus und Rassismus geografisch von Frankfurt/Bergen-Belsen nach Moosseedorf und zeitlich von 1933–1945 nach 2012 zu holen – mit der Frage: «Wo findet heute bei uns Diskriminierung und Ausgrenzung statt, und was kann man dagegen tun?»
Während des Gesprächs notierten die Jugendlichen die wichtigsten Äusserungen mit Filzstift auf dem «Tischtuch-Protokoll»: ein grosses Papierplakat, das wie ein Tischtuch auf dem Tisch lag.

Dann wurden die Jugend­lichen aufgefordert, die für sie wichtigsten Aussagen aus der Diskussion in einem kurzen Statement zu verdichten. Diese Statements wurden anschliessend per Videokamera aufgenommen und später zu einer kurzen Videobotschaft «Diskriminierung – damals und heute» zusammengeschnitten.

Zum zweiten Teil des Nachbereitungstreffens waren interessierte Eltern und Geschwister eingeladen, und sie erschienen tatsächlich zahlreich, dazu auch einige Grosseltern, Freundinnen und Freunde sowie eine Lehrerin. Nach der Begrüssung hängten die Jugendlichen nach und nach ihr Poster auf und gaben einen begründenden oder erläuternden Kommentar dazu. Bei einem Apéritiv bestand anschliessend Gelegenheit zur Betrachtung der Poster, zu Rückfragen und Gesprächen.

Die Poster wurden zehn Tage im Foyer des Moosseedorfer Kirchgemeindehauses ausgestellt, anschliessend für zwei Wochen in der Pausenhalle der Schule Moosseedorf und zwei weitere Wochen im passepar­tout-ch, dem Nationalen Zentrum für Kinder- und Jugendförderung in Moosseedorf.

Das letzte Poster enthält Aussagen der Jugendlichen darüber, wo Diskriminierung heute stattfindet – und was man dagegen tun kann. Eine Jugendliche sagte:

«Nicht mitmachen oder sagen ‹Halt, Stopp, das ist nicht richtig! Warum machst du das?›»